Fichte-Studien

Volume 44, 2017

Fichte und seine Zeit

Jakub Kloc-Konkołowicz
Pages 234-254

»Wir alle werden im Egoismus erzeugt und geboren…«
Fichtes Grundzu·ge des gegenwartigen Zeitalters als Selbstreflexive Kritik der Moderne

In the paper I try to interpret Fichte’s Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters as a reflective self-critique of the Enlightenment. Identifying the ›third historical period‹ of Fichte with the time of Enlightenment, I try to read his lectures as an ambitious and differentiated critique of it. The aim of Fichte’s devastating criticism on dominant characteristics of the Enlightenment (egoism, superficiality and self-interest) is in my opinion not to refuse it entirely. It is rather to continue it with an increased sense of self-criticism. The proposed reading enables to place Fichte’s arguments in the context of today’s debates over issues like the role of religion in civil society, or the meaning and fundamental values of Europe’s integration. For all his critique on modernity, Fichte refrains from treading a conservative, communitarian or collectivist path. This can be seen as the great advantage of his standpoint. What he intends is rather the »enlightenment of Enlightenment«, the continuous differentiation of knowledge and liberating the human being from the constrained form of modern consciousness. Der Beitrag bildet einen Versuch, Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters als eine reflexive (Selbst-)Kritik der Aufklärung zu deuten. Ich identifiziere Fichtes ›drittes Zeitalter‹ aus den Grundzügen mit der als Aufklärung verstandenen Moderne. Sie bildet, meines Erachtens, den Gegenstand einer anspruchsvollen und differenzierten Kritik: das vernichtende Urteil über die in ihr dominierenden ›Züge‹ des Egoismus, der Oberflächlichkeit und des Selbstinteresses haben keineswegs den Zweck, Modernität als solche zu desavouieren. Vielmehr handelt es sich um eine zukunftsorientierte Fortsetzung der Aufklärung im Sinne einer gesteigerten (Selbst-)Reflexivität. Durch eine solche Deutung kann Fichtes Position in die gegenwärtigen Debatten – etwa um die Rolle und Funktion der Religion innerhalb der säkularen Gesellschaft oder um die Grundwerte und den Sinn der europäischen Einigung – einbezogen werden. Aus der Sicht der heutigen Debatten besteht die Originalität des Fichteschen Standpunktes genau darin, dass er, bei aller Kritik der egoistischen Zügen der aufklärerischen Kultur weder auf konservative, noch auf kommunitaristische oder kollektivistische Lösungen zurückgreift. Gemeint ist von ihm eher eine ›Aufklärung der Aufklärung‹, weitere Differenzierung des Wissens, aber auch Befreiung der Menschen von dem zwanghaften Charakter ihres modernen Bewusstseins.